Zuletzt aktualisiert: Lesezeit:

29. Apr
2022

Telemedizin: Fluch oder Segen?

Die Corona-Pandemie hat nicht nur das private und öffentliche Leben stark eingeschränkt, sondern auch das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen gestellt. Gerade in der Behandlung der Patient*innen musste man sich auf die Kontaktbeschränkungen einstellen. Zudem gab es durch Corona-bedingte Engpässe in der Versorgung und die Patient*innen hatten ein erhöhtes Risiko der Ansteckung bei Präsenzbesuchen und auf dem Weg zu Terminen, die sich nicht vermeiden ließen, so der Referent. Aber eine optimale Versorgung und Therapie muss natürlich auch während der Corona-Pandemie gewährleistet werden.

Diese komplexe Situation hat zu einem spürbaren Umdenken in der Versorgung und Behandlung von CED-Patient*innen geführt. So zeigen Daten, dass von 2019 bis 2022 der Anteil an Telemedizin in der Versorgung stark zugenommen und der Anteil an Präsenzbesuchen deutlich abgenommen hat.1 Aber was steckt eigentlich hinter dem Begriff „Telemedizin“ und was sagen bisherige Praxiserfahrungen und Studien über die Qualität dieser Art der Versorgung aus? Ist die Telemedizin gekommen, um auch nach der Pandemie zu bleiben? Diesen Fragen widmeten sich zwei Experten in einem Tandemtalk und nahmen dabei gegensätzliche Positionen ein.

Was ist Telemedizin?

Telemedizin – ein Schlagwort an dem es in Gesundheitskreisen seit Beginn der Corona-Pandemie kein Vorbeikommen mehr gibt. Aber was steckt eigentlich hinter diesem Wort? Geht es dabei, wie der Name impliziert tatsächlich nur um telefonische Kontaktaufnahme und Beratung der Patient*innen? Nein, hinter dem Begriff Telemedizin verstecken sich eine ganze Reihe an digitalen Maßnahmen, die unter anderem:2,3

  • direkte Präsenzkontakte mit den Patient*innen verringern sollen
  • digitale Überwachung von Krankheitsdaten und Symptomen ermöglichen sollen
  • das Selbstmanagement der Patient*innen verstärken sollen

Auszug der Möglichkeiten in der Telemedizin?

  • Telefonberatung
  • Videoberatung
  • FCP-Überwachung*
  • SMS-Reminder
  • Smartphone App (Schulungsmodule, Krankheitsmanagement, elektronische Tagebücher)

*Fäkales Calprotektin (FCP) ist ein Diagnose- und Aktivitätsmarker für entzündliche Aktivität im Verdauungstrakt bei CED-Patient*innen. Der Nachweis erfolgt über eine Stuhlprobe und kann Aufschluss über die Ausprägung und den Verlauf einer Entzündung im Darm geben.4

Die Telemedizin befindet sich am Anfang ihrer Entwicklung und die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgeschöpft. Das ist mit ein Grund dafür, warum es auch heute noch so schwierig ist das Feld der Telemedizin klar zu definieren. Das Bundesministerium für Gesundheit beschreibt Telemedizin beispielsweise als Möglichkeit unter Einsatz audiovisueller Kommunikationstechnologien trotz räumlicher Trennung z.B. Diagnostik, Konsultation und medizinische Notfalldienste anbieten zu können.5 Es bleibt spannend zu sehen, was die Zukunft in Sachen Telemedizin noch bereithält und welche Ideen sich tatsächlich in der Praxis bewähren werden.

Telemedizin: Gekommen um zu bleiben?

In dem Tandem-Talk „I want to see my patients in person vs. I can manage my patients remotely“ erörterten zwei Experten kritisch die Fragen: Welche Vor- und Nachteile hat die Telemedizin aus Sicht der Patient*innen und des Fachpersonals? Wird die Telemedizin auch in den Zeiten nach der Pandemie eine Rolle spielen und wenn ja, welche? Es zeigte sich schnell, dass es reichlich Argumente sowohl für den Einsatz von Telemedizin als auch dagegen gibt.

Vor- und Nachteile von Telemedizin2-4,6,7

  • Vorteile:
    • Reduktion der Präsenzbesuche
      • Weniger Reiseaufwand für Patient*innen, die weit entfernt wohnen
      • Mehr freie Ressourcen des Fachpersonals für akute Fälle
    • Höhere Therapietreue
    • Reduziertes Risiko von Hospitalisierungen
    • Verringerung der Versorgungskosten
    • Reduktion der Fehlzeiten in der Schule
  • Nachteile:
    • Problemfaktor: Die richtigen Patient*innen6
      • Hohes Alter
      • Einschränkungen: Sehen, Hören
      • Analphabetismus
      • Präferenzen der Patient*innen (Akzeptanz oder Ähnliches)
    • Kommunikation zwischen Fachpersonal und Patient*innen (Empathie, persönliche Verbindung aufbauen, reflektives Zuhören)6
    • Physische Untersuchungen sind nicht möglich6
    • Psychosoziale Faktoren könnten übersehen werden (Fehlende menschliche Interaktion, Fachpersonal kann nicht auf non-verbale psychosoziale Indikatoren reagieren)6
    • Schulung des zukünftigen Fachpersonals (psychosoziale Indikatoren in der Praxis bei Patient*innen zu erkennen)6

In einem waren sich die Referenten aber einig – die Vorteile sprechen für sich und Telemedizin ist gekommen um zu bleiben. Aber es wird wohl ein Hybridmodell notwendig sein, um allen Patient*innen mit ihren individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen gerecht zu werden. Es brauche eine Balance zwischen Telemedizin und Präsenzkontakten und darin liege wahrscheinlich auch die Zukunft, so die Referenten. Patient*innen müsse man auch ab und zu mal sehen, denn nur so ließe sich über Indikatoren wie Gangbild und die generelle Erscheinung einen Eindruck über den Gesamtzustand der Patient*innen gewinnen, stimmt auch eine Teilnehmerin zu. In Deutschland steckt die Telemedizin noch in den Kinderschuhen und das konnte die Corona-Pandemie auch nicht so schnell ändern. Aber es hat ein Umdenken stattgefunden, berichtet eine Teilnehmerin. In Ihrer Praxis wollen sie jetzt ein Konzept für eine Schwesternsprechstunde entwickeln, bei der die Patient*innen sowohl virtuell als auch vor Ort teilnehmen können.

Aber auch auf Bundesebene werden die Weichen für den vermehrten Einsatz von Telemedizin in der Versorgung gestellt. So wurde bereits im Juni 2021 das Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege (DVPMG) auf den Weg gebracht, mit dem Ziel telemedizinische Leistungen zu stärken.8 Aber gerade spezialisierte Fachkräfte, wie CED-Fachassistenzen, werden noch nicht berücksichtigt. Leistungen wie virtuelle Schulungen für Patient*innen im Umgang mit ihrer Erkrankung und der Therapie können noch nicht abgerechnet werden, so eine Teilnehmerin. Es sind noch rechtliche Rahmenbedingungen nötig, um eine telemedizinische Versorgung in der Praxis umsetzen zu können. Neben den rechtlichen Grundlagen sei aber vor allem entscheidend, ob das Fachpersonal im Einzelfall den Patient*innen eine telemedizinische Versorgung zutraue und ob dies seitens der Patient*innen auch gewünscht sei, resümieren die Referenten.

Fazit:

Mit der Telemedizin haben sich neue Möglichkeiten in der Versorgung eröffnet und es gibt noch viel Potential für weitere Entwicklungen. Dabei ist Telemedizin kein Monoformat für die Betreuung von Patient*innen. Eine Kombination aus Präsenzbesuchen und Telemedizin könnte das Modell der Zukunft sein.

  1. Lees CW et al. Gastroenterology 2020;159:805–808.
  2. De Jong MJ et al. Lancet 2017; 390:959-968.
  3. Carlsen K et al. Inflamm Bowel Dis 2017; 23(3):357-365.
  4. Das Gastroenterologie Portal. https://dasgastroenterologieportal.de/Calprotectin_als_Diagnosemarker.html (letzter Aufruf 29.03.2022)
  5. Bundesministerium für Gesundheit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/t/telemedizin.html (letzter Aufruf 25.03.2022)
  6. Nguyen et al. Am J Gastroenterol 2021; 117(1):78-97.
  7. Basierend auf Erfahrungen der Referenten
  8. Bundesministerium für Gesundheit: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/gesetze-und-verordnungen/guv-19-lp/dvpmg.html (letzter Aufruf 25.03.2022)

Weitere Artikel die Sie interessieren könnten:

ZUGEHÖRIGE TAGS

BEWERTEN SIE DIESEN ARTIKEL
Rating
0 Bewertungen